Die Belle Epoque in Europa
Frankreich: Die Geburt des Films
"Frankreich" mit freundlicher Genehmigung von Anita Seth
- French 102 - Professeur Monique Saigal
Pomona College, Claremont, California, USA - Frühjahr 1995

Während der Belle Epoque wurde in Frankreich die Filmindustrie gegründet. Die ersten Pioniere waren Louis Lumière, Georges Méliès, Charles Pathé und Léon Gaumont. Am 28. Dezember 1895 fand im indischen Salon des Grand Café in Paris, 14 boulevard des Capucines, die erste bezahlte Vorführung von Bildern des Kinematographen von Louis Lumière (1864-1948) statt: Es handelte sich um La Sortie des usines Lumière (Feierabend in der Fabrik Lumière). Im Frühjahr und Sommer dieses Jahres drehte Lumière viele solcher kleinen Filme, die ihn bekannt gemacht haben, wie beispielsweise L'arroseur arrosé (Der begossene Begießer, 1895), Partie d'écarté, Arrivée d'un train à La Ciotat (Die Ankunft eines Zuges in La Ciotat, 1895), Barque sortant du port und Repas de bébé. Jeder dieser Filme dauerte nur eine Minute oder weniger und stellte lediglich kleine Szenen aus dem täglichen Leben eines Bürgers dar. Tatsächlich lag das Interesse Lumières nicht auf den Filmen selbst, sondern eher auf dem Verkauf seines Kinematographen. Er drehte seine Filme in erster Linie, um für seine Erfindung zu werben, doch hat er auf diese Weise die Idee der bezahlten Kinovorführung geschaffen sowie eine Form des Filmverleihs. Bald verließ er das Grand Café und eröffnete einen eigenen Saal. Am Ende des 19. Jahrhunderts hatte er 1.424 Kurzfilme auf seiner Liste.
Georges Méliès (1861-1938) arbeitete ursprünglich als Zauberkünstler im Theater Robert Houdin. Im Jahre 1896 begann er damit Theaterkunststücke zu filmen. Eines der bekanntesten war Escamotage d'une dame chez Robert Houdin (Das Verschwinden einer Dame bei Robert Houdin). Wie Lumière drehte auch er viele Kurzfilme, aber er erschuf für seine Filme oft fantastische Schauspiele, anstatt realistische Szenen zu zeigen. Realismus und Fantasiewelt: Die beiden großen Achsen des Kinos sind bereits gegenwärtig mit "Lumière du jour" und "Méliès de la nuit"1). Unglücklicherweise konnte Méliès nicht von seinen cineastischen Arbeiten profitieren, da er nicht die Zeit hatte, seine Filme selbst zu vertreiben und daher von anderen abhing. Die Zeit der Autorenrechte hatte noch nicht begonnen und seine Filme wurden von ausländischen Gesellschaften ausgebeutet, die ihm nichts zahlten.

Charles Pathé (1863-1957) jedoch hatte einen enormen wirtschaftlichen Erfolg. Im Jahre 1908 kontrollierte er ein Drittel des Kino-Weltmarktes. Er interessierte sich sowohl für die Produktion als auch für die kommerzielle Nutzung. Gedreht wurden die Filme von einer Reihe aufeinander folgender Regisseure. Der erste war Ferdinand Zecca (1864-1947), der ursprünglich Schauspieler gewesen war. Auch Léon Gaumont (1864-1946) arbeitete unter dem wirtschaftlichen Aspekt des Kinos und ließ seine Sekretärin Alice Guy (1875-1968) in seinen Filmen Regie führen. Tatsächlich war sie der erste weibliche Regisseur der Welt. Von 1897 bis 1906 hat sie 301 Filme gedreht!
Es ist offensichtlich, dass der künstlerische Aspekt für die Filme der damaligen Zeit noch nicht sehr wesentlich war. Weder Zecca noch Guy verstanden viel vom Theater oder von künstlerischen Gesichtspunkten, als sie Regisseure wurden. Auf künstlerischem Gebiet war das Kino nicht wichtig, sondern vielmehr auf wirtschaftlichem Gebiet. Es durfte nicht teuer sein, einen Film zu drehen, und die Regisseure mussten sehr schnell arbeiten. Gewöhnlich drehte man pro Woche einen oder zwei Filme. Man hatte weder die Zeit noch das Geld für komplexe oder künstlerische Filme und respektierte die Regisseure nicht in der Art, wie man es heute tut. Das wesentliche Ziel war es, vom Verkauf der Filme zu profitieren.
Doch zu Anfang des 20. Jahrhunderts erlebte man die Geburt der Genre, welche wir heute mit dem Beginn des Kinos verbinden. Die Handlung eines Films spielte mehr und mehr eine wichtige Rolle. Unter Zeccas Leitung entstand eine erste Version von Quo Vadis (1901), Dramen aus dem Alltag wie Les victimes de l'alcoolisme (1902) und Passion (1902/03). Klassiker der Literatur wurden verfilmt. Albert Capellani (1870-1931), der für Pathé arbeitete, war einer der bekanntesten Regisseure für diese Art von Film. Nach den Romanen von Emile Zola drehte er L'Assommoir (1909) und Germinal (1913), nach Victor Hugo Notre Dame de Paris (1911) und Les Misérables (1912). Les Misérables war bis dahin der längste Film der Epoche mit einer Dauer von 3 ½ Stunden!
In jener Zeit tauchten auch die Komödie und die Burleske in den Filmen auf. Der Schauspieler Max Linder (1883-1925) wurde in einer Reihe von Pathé-Filmen bekannt für seine komischen Darstellungen wie z. B. in seinem ersten Film unter Zecca, La vie de Polichinelle (1905). André Heuzé war der erste auf komische Filme spezialisierte Regisseur und hat absurde Verfolgungsjagden gedreht. Victorin Jasset (1862-1913) begann mit der Verfilmung von Kriminalgeschichten, die auf den Erzählungen in populären Zeitungen basierten. Emile Cohl hat 1908 den ersten Zeichentrickfilm hergestellt, Fantasmagorie.


Noch berühmter wurde wenig später Louis Feuillade (1874-1925), Regisseur bei Gaumont, der zunächst in seiner Serie La vie telle qu'elle est (1911-13) realistische Alltagsdramen drehte. Den großen Erfolg hatte er aber mit seinem mehrteiligen Serienfilm über den genialen Gentleman-Banditen Fantômas (1913/14). Er konnte später daran anschließen mit Serien wie Les vampires (1915) und Judex (1916/17).
Obwohl man gewöhnlich an schwarz-weiße Stummfilme denkt, waren sie jedoch tatsächlich oft eingefärbt. Es gab verschiedene Methoden, ihnen Farbe zu verleihen: Man färbte das gesamte Filmmaterial ein oder kolorierte mit der Hand mittels ganz feiner Pinsel. Der Ton in den Kinosälen war nicht von großer Qualität, doch gab es immerhin welchen. Es gab außerdem noch viel fantastischere Ereignisse, beispielsweise das "Cineorama" von Raoul Grimoin-Sanson für die Weltausstellung von 1900: Zehn synchrone Projektoren ergaben ein Rundum-Panorama von 360 Grad. Die Filmindustrie war bereits wesentlich weiter vorangeschritten, als wir es uns heute vorstellen. Aber Paris konnte seinen Platz im Zentrum der cineastischen Welt nicht halten. Der Erste Weltkrieg unterbrach die Filmproduktion in Frankreich und währenddessen entstand in Hollywood die Filmindustrie und wuchs sehr rasch.
1) "Lumière des Tages" und "Méliès der Nacht", wobei "lumière du jour" auch "Tageslicht" bedeutet.