Die Belle Epoque in Europa
Belgien
Brüssel
Die europäische Wirtschaftskrise von 1884 war in Belgien besonders schlimm, die Bedingungen der Arbeiterklasse schwieriger und die Bevölkerungsdichte höher als in den anderen Ländern des Kontinents. Die liberale Regierung stürzte in diesem Jahr, mit ihr verschwand das Regime, das seit 1830, der Gründung Belgiens, geherrscht hatte. Die Katholiken festigten ihre Macht, während die Sozialisten sich als Massenbewegung zu organisieren begannen - 1885 wurde die belgische Arbeiterpartei (Parti Ouvrier) gegründet.
Paul Cauchie (1875-1952)
Haus Cauchie (1905)
5 avenue des Francs
© Le Cercle Guimard/Olivier Bost
Im März 1886 gab es Aufstände in der Gegend von Charleroi, die von der Armee mit bis dahin nicht gekannter Brutalität niedergeschlagen wurden. Diese Ereignisse veranlassten viele junge Intellektuelle, sich der Arbeiterpartei anzuschließen, darunter drei Anwälte, Jules Destrée, Emile Vandervelde und Max Hallet, welche das Exekutivkommitee der Partei dazu überredeten, das Projekt des Brüsseler Volkshauses (Maison du Peuple) Victor Horta (1861-1947) anzuvertrauen. Max Hallet beauftragte in der Folge Victor Horta mit den Plänen seiner Residenz in der Avenue Louise; zusammen mit dem Antwerpener Sozialisten Camille Huysmans spielte Hallet eine wichtige Rolle bei der späteren Gründung des Brüsseler Institut des Arts Décoratifs im Jahre 1926.
Octave van Rysselberghe (1855-1929)/Henry van de Velde (1863-1957)
Hôtel Otlet (1898)
Livornostraat 48
© Le Cercle Guimard/Olivier Bost
Paul Hankar (1859-1901)
Eh. Hemdengeschäft Niguet (1899)
13 rue Royale
© Le Cercle Guimard/Olivier Bost
So kam es, dass am Ende des 19. Jahrhunderts die ästhetischen Ideen der belgischen Arbeiterpartei auf der Freundschaft zwischen den jungen intellektuellen Parteiführern und den Künstlern der Avantgarde ruhten. Da nun diese Künstler Enthusiasten des Jugendstil waren, ergriffen ihre sozialistischen Freunde Partei für diesen modernen Architekturstil wie beispielsweise Louis Bertrand, Bürgermeister und sozialistischer Abgeordneter von Schaerbeek, der dafür sorgte, dass die Mehrzahl der öffentlichen Gebäde seiner Kommune sich nach diesem Stil richteten (so beauftragte er mit dem Bau aller Schulen der Kommune den Architekten Henry Jacobs (1864-1935), einen Schüler von Horta).
Obwohl man den Jugendstil nicht als den offiziellen sozialistischen Stil bezeichnen kann, ging die Präferenz der Arbeiterpartei jedoch eindeutig in diese Richtung: So wurde beispielsweise Henry van de Velde (1863-1957) mit Zeichnungen für die Partei beauftragt, während gleichzeitig Emile Vandervelde Artikel zu Gunsten des Jugendstils veröffentlichte. Des Weiteren brachten die Spannungen von 1884 einen neuen Menschentyp in der bürgerlichen Oberschicht hervor: In der Finanz- und Geschäftswelt gingen die Angelegenheit in die Hände einer neuen Generation über, die vom Geist des Fortschritts beseelt war und dem neuen Stil positiv gegenüberstand. Es handelte sich zumeist um Ingenieure, die in ehemaligen Kolonien am Aufbau des Staatswesens beteiligt gewesen waren, wie Van Eetvelde, Aubecq, Tassel und Solvay, die zu den wichtigsten Kunden von Horta gehörten und deren Häuser heute noch zu bewundern sind.
Victor Horta
(1861-1947)
Wohnung und
Atelier des
Bildhauers
Dubois (1901)
80 avenue Brugmann
Armand van Waesberghe
Gutenbergplantsoen 5
(1898)
"De Zonnebloem"
(ca. 1895-1903)
Miniemenstraat 40
Armand van Waesberghe
Gutenbergplantsoen 19
(1898)
Joseph Stevensstraat/
Emile Vanderveldeplein
(ca. 1900)
Victor Taelemans
80 Michel Angelolaan
(1899)
Übrigens - wie mir André Pirard aus Belgien mitteilte - war der Begriff Art Nouveau, anders als in Frankreich, in Belgien seinerzeit kaum gebräuchlich; im Allgemeinen nannte man den Jugendstil Modern Style.