Die Belle Epoque in Europa
Einführung
Der Nährboden
Nach dem deutsch-französischen Krieg begann 1871 eine Epoche innereuropäischen
Friedens, die bis zur Entfesselung des Ersten Weltkriegs 1914 immerhin 43 Jahre anhielt. Dieser
Frieden ging einher mit einer Reihe von wesentlichen Entwicklungen, vor allem in den einflussreichen
Staaten England, Frankreich, Österreich-Ungarn und Deutschland.
Die Welt wurde von der zweiten Welle der industriellen Revolution erfasst. Diese betraf vor
allem die elektrotechnische und die chemische Industrie, es begann die Zeit der Verbrennungsmotoren
und der Stahlproduktion in großem Stil; Maschinen wurden größer und
leistungsfähiger, Schiffe wurden größer und der Bau billiger, man wechselte vom Rad-
zum Schraubenantrieb, vom Kolben zur Turbine und steigerte die Geschwindigkeit auf das Doppelte. Die
Eisenbahn bekam Stahlschienen, auf denen längere und schwerere Züge eineinhalb Mal schneller
fahren konnten; so entwickelte sie sich zum wichtigsten Verkehrsmittel.
Gleichzeitig begann die endgültige Eroberung der Luft: Die ersten Flugzeuge wurden gebaut
und Graf Zeppelin ging mit seinem Luftschiff in die Geschichte ein.
Die Industrialisierung bewirkte in großer Zahl Arbeitsmöglichkeiten, die nicht an
Besitz und Boden gebunden waren. Dies hatte (in England bereits in der 1. Hälfte des Jahrhunderts)
ein nie zuvor festgestelltes Bevölkerungswachstum zur Folge. Auf Grund der Lage der Fabriken
zogen immer mehr Menschen in die Städte, die weit über ihre Grenzen hinauswuchsen und sich teilweise
zu Ballungszentren zu entwickeln begannen.
Zwar tauchten dadurch neue gesundheitliche Probleme auf, denen jedoch ungeheure Fortschritte in
Hygiene und Medizin gegenüber standen. Tödliche Krankheiten wurden besiegbar, die
Säuglingssterblichkeit nahm ab, gleichzeitig erhöhte sich die mittlere Lebenserwartung.
Der Charakter der Arbeit hatte sich allerdings verändert: Fertigungsprozesse wurden zerlegt,
mechanisiert und rationalisiert bis hin zur Erfindung des Fließbandes (1903). Eintönigkeit und
Unzufriedenheit der Arbeiter waren die Folge, die zum Teil durch enormen wirtschaftlichen Aufschwung
und durchgängige Prosperität aufgefangen wurden; beispielsweise stiegen zwischen 1850 und 1890 in
England die Nominallöhne um mehr als 60 Prozent, während gleichzeitig die Konsumentenpreise um
6,5 Prozent fielen!
Unter diesen Bedingungen begannen sich die Arbeiter in Berufsvertretungen zu organisieren: Zwischen 1868 und
1906 wurden überall Gewerkschaften und (sozialistische) Arbeiterparteien (SPD, PSU, Labour
Party usw.) gegründet und erreichten bis 1914 erheblichen Einfluss und teilweise Regierungsbeteiligung.
Vielerorts wurden große Anstrengungen der Laizisierung unternommen; Frankreich beispielsweise erreichte
1905 die völlige Trennung von Kirche und Staat. Die Bildung bekam einen neuen Schub; im deutschen
Kaiserreich konnte man eine wachsende Zahl an Studenten aus der unteren Mittelschicht beobachten. In den 70er und
80er Jahren wurden bereits die ersten Frauen in Frankreich, Belgien, der Schweiz und den Niederlanden sowie den
skandinavischen Ländern zum Studium zugelassen (innerhalb des wilhelminischen Deutschlands erst 1901 in Baden).
Die Industrialisierung, die die Frauen zahlreich in die Fabriken gebracht hatte, brachte so auch die
Frauenbewegung hervor: Forderungen nach Arbeitsschutz und Gleichstellung der Frau in allen Berufen kamen auf,
außerdem forderte man vielerorts Stimmrecht sowie aktives und passives Wahlrecht für Frauen. Den Anfang
machte der amerikanische Bundesstaat Wyoming bereits 1869, andere folgten diesem Beispiel - im Europa vor dem Ersten
Weltkrieg wurde den Frauen lediglich in Finnland (1906) und Norwegen (1913, eingeschränkt ab 1907) das volle Stimmrecht gewährt.
Einen ganz erheblichen Anteil an der wissenschaftlichen Entwicklung und der kulturellen Blüte hatten die
europäischen Juden. Das 19. Jahrhundert steht ganz im Zeichen jüdischer Emanzipation und
Assimilierung. Während jedoch im wilhelminischen Deutschland und im habsburgischen Österreich das
Militär, die "Junkeroffiziere", gesellschaftlich und politisch äußerst einflussreich waren und
gemeinsam mit der Ober- und Mittelschicht einen rassistisch motivierten Antisemitismus schürten, erlitten
die Juden in Frankreich durch die Dreyfus-Affäre zunächst einen herben Rückschlag, in dessen Folge
jedoch - nachdem der Skandal öffentlich und das Urteil aufgehoben worden war - die französische Gesellschaft
von einem 'militanten Antimilitarismus' erfasst wurde und jeder Antisemitismus verpönt war.
Der Jahrhundertwechsel markiert auch den Übergang in das Zeitalter der Massen: Massentransportmittel
(Eisenbahn, U-Bahn), Massenerziehung, Massenwohnungsbau, Massenvergnügungen (Zirkus, Cabarets, Kino), aber auch
Massenkunst.
Die Menschen dieser Epoche waren im Allgemeinen materiell zuversichtlich und kulturoptimistisch.
Kunst jeder Richtung und Spielart, vom Impressionismus über den Jugendstil zum Kubismus,
Musik von der Romantik bis zur Dodekaphonik, Literatur, romantisch, sozialkritisch, politisch, lyrisch,
blühte wie nie zuvor. Alle sozialen Schichten befanden sich in einer Art Aufbruchstimmung,
wollten das Althergebrachte über Bord werfen, am Fortschritt teilhaben und ihr Verdientes genießen.
Auf diesen Grundlagen begann die Zeit, die wir heute die Belle Epoque nennen.
Die "Belle Epoque"
Wer von der Belle Epoque spricht, hat zumeist seine eigenen Vorstellungen davon, welchem exakten
Zeitraum diese Epoche zuzuordnen sei. Unstrittig ist sicherlich, dass sie irgendwann zwischen 1871
und 1914 lag. In der Geschichtsschreibung ist sie kein einheitlich festgelegter Begriff, jeder
Historiker terminiert sie anders. Wann hat sie wirklich begonnen und wie lange hat sie gedauert?
In London hielt William Morris bereits im Dezember 1877 seinen Vortrag zu den "Decorative
Arts", um das Jahr 1880 entstand die "Arts and Crafts"-Bewegung. Oscar Wilde trug
1882 mit Veröffentlichungen zu "House Decoration" oder "Art and the
Handicraftsman" zur Verbreitung des Ästhetizismus bei. Das "Chat noir" in Paris
öffnete 1881 seine Tore, das "Moulin Rouge" 1886. Emile Gallé fertigte seine
ersten Glasarbeiten in Nancy im Jahre 1883 an, 1889 findet in Paris die Weltausstellung mit dem
Eiffelturm statt. In München wird 1892 die Secession gegründet, 1896 die Zeitschrift
"Die Jugend"; 1897 folgt die Wiener Secession.
Kürzlich las ich im Werk eines Historikers, dass er den Beginn der Belle Epoque auf 1901
terminiert, das Jahr der Thronbesteigung Edwards VII (ein glühender Verehrer des Jugendstil)
und damit des Endes der Viktorianischen Ära. Dies erscheint mir zu spät und
äußerst willkürlich. Wenn man nur die wenigen von mir oben erwähnten Daten Revue
passieren lässt, erkennt man zweierlei: Die Belle Epoque zog sich über gut drei Jahrzehnte
hin und entfaltete in London, Paris, München oder Wien ihre Wirkung zu unterschiedlichen
Zeitpunkten; die Thronbesteigung Edwards VII im Jahre 1901 liegt inmitten des Höhepunktes dieser
Ära. Als weiterer Aspekt kommt hinzu, dass die Einflüsse aus dem viktorianischen England,
dem französischen und deutschen Kaiserreich sowie der Donau-Doppelmonarchie zu dem Umbruch, der
in den letzten beiden Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts in gesellschaftlicher und kultureller Hinsicht
stattfand, einen wesentlichen Teil beigetragen hatten; und es gibt Bindeglieder, die die Brücke
schlagen, wie beispielsweise den Impressionismus, der für mich im Grunde schon zur Belle Epoque
zählt.
Charakterisieren lässt sich das Entstehen der Belle Epoque mit Begriffen wie Überdruss am
Traditionellen in Kunst, Architektur und Alltag, an Pomp und Protz des Althergebrachten; erwachte Lust
am Leben in allen gesellschaftlichen Schichten, Drang nach Neuem, Unverbrauchtem, Außergewöhnlichem,
Sensationellen; die vorstehend erwähnten Fortschritte, die in Wissenschaft und Technik erzielt wurden,
die nach der zweiten industriellen Revolution erreichten Verbesserungen sozialer, finanzieller und politischer
Natur inmitten einer langen Phase des Friedens, verbunden mit staatlicher Neukonstitution vieler Länder
taten ein Übriges, der Menschen Wohlstand zu mehren und Optimismus, Zukunftsglaube, Zuversicht zu
verbreiten. Das kulturelle Leben öffnete sich für alle Klassen, und man ging nach draußen in
die Cabarets, um sich zu vergnügen, in die Kabaretts, um sich lustig zu machen. Frohsinn,
Freizügigkeit und auffallende Äußerlichkeit (Englischer Ästhetizismus, französisches
Kurtisanentum, Music-Hall, Pariser Cafés-bordel, Wiener Walzerseligkeit) waren ein Markenzeichen der
Zeit. Malerei, Kunstgewerbe und Architektur beschritten ebenso neue Wege wie die Musik. Die Kunst drang in
den Alltag ein. Ebenso charakteristisch für diese Epoche ist der vorerwähnte Übergang in das
Zeitalter der Massen. Kann man den Beginn schon nicht exakt bestimmen - wozu auch? -, so ist mit dem Ausbruch
des 1. Weltkrieges die Belle Epoque mit Sicherheit zu Ende. In den Jahren 1910/11 kam der Jugendstil
urplötzlich und überraschend aus der Mode. Die ersten Tendenzen hin zu Expressionismus und Bauhaus
hatten sich längst gezeigt - und Gustav Mahler starb. Es ist sicherlich nicht falsch, hier bereits
das Ende der Belle Epoque anzusetzen.
Für mich persönlich gibt es jedoch ein Datum, an welchem wie durch ein symbolisches Fanal
die Belle Epoque ein für alle Mal beendet wurde: Der 15. April 1912. Mit dem Untergang der Titanic
versank der unerschütterliche Optimismus, der naive Technikglaube und das Bild einer strahlenden
Zukunft voller Lebenslust. Kommende Schrecken zweier Weltkriege begannen sich am Horizont abzuzeichnen,
und die Zuversicht wich der Angst.